Im Rahmen der Dialogveranstaltung der Reihe „Geist & Gegenwart“ sprach Andreas Treichl, Präsident des Europäischen Forum Alpbach, mit deutlicher Kritik über den Zustand der europäischen Union in Zeiten der Corona-Pandemie und warum europäische Pensionen weniger oft in Europa investiert werden.
Der Diskussionsabend war Auftakt zur Reihe Geist & Gegenwart 2021. Diese steht unter dem Motto „Reset Europe“, wie Wirtschaftslanderätin Barbara Eibinger-Miedl (ÖVP) zu Beginn verkündete. Man müsse das Thema eigentlich in „Restart Europe“ umformulieren, meinte Andreas Treichl. Europa habe zwar keine bedeutende Stimme in der Weltpolitik mehr. Man müsse aber nicht deprimiert sein, schließlich „haben wir es schon einmal geschafft“ ein politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich erfolgreicher und führender Kontinent zu werden – „ohne irgendeine militärische Macht.“ „Warum sollten wir es nicht wieder schaffen?“, zog Treichl den Vergleich zwischen der EU der vergangenen 60 Jahre und der Gegenwart.
Treichl ist seit 12. November neuer Präsident des Europäischen Forum Alpbach. Herwig Hösele, Geist & Gegenwart-Koordinator und Präsident des Club Alpbach Steiermark, lobte Treichl als einen „weit über den Tellerrand der Banken- und Wirtschaftswelt hinausblickenden, europäisch denkenden, bürgerlich Liberalen“. Dieser Blick über den Tellerrand ging auch an diesem Abend unweigerlich in die USA und nach China. Der Corona-Pandemie geschuldet, fand die Diskussion – unter reger Publikumsbeteiligung – per Videoschaltung statt. „Eine Form der Kommunikation, die wir hoffentlich nicht immer haben müssen“, so Treichl.
„EU keine Wirtschaftsunion mehr“
„Überlegen Sie einmal, wie viele Hilfsmittel zur digitalen Kommunikation es derzeit gibt. Und dann denken Sie einmal kurz darüber nach: Wo kommen die alle her?“, fragte Treichl. Dass diese nicht aus Europa kämen, sei ein Problem für die Europäische Union. Es gebe einen neuen Bilateralismus vor allem zwischen den USA und China. Europa hingegen habe wirtschaftlich „völlig den Zug verpasst“. Mittlerweile sei die EU auch keine Wirtschaftsunion mehr und auch keine Union der Daten, des Datentransfers und der Dateninfrastruktur, kritisierte der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Erste Group.
Es gebe zu viele rechtliche und regulatorische Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern und das mache es vor allem Wirtschaftsbetrieben schwer, die im Bereich neuer Technologien tätig seien. Europa müsse zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammenwachsen. Beispielhaft nannte der frühere Erste-Chef den Kapitalmarkt: „Es ist sonnenklar, was passieren muss, damit wir einen europäischen Kapitalmarkt entwickeln können, aber es passiert nicht“, so Treichl.
Zu wenig Kapital, zu wenig Investitionsmöglichkeiten
Dieses „Nicht-Passieren“ werde dramatischere Folge haben, „als wir uns denken können“, warnte Treichl. Es gebe zu wenig privates Kapital für Unternehmen der jungen Wirtschaft. Diese müssten sich das nötige Kapital aus China oder den USA holen. In Europa sei dadurch „zu wenig Material“ vorhanden, was dazu führe, dass europäische Pensionsfonds zu fast zwei Drittel außerhalb Europas, vor allem in den USA, investiert sind. Auf die Frage, warum nicht etwa in europäische Start-Ups investiert werde, sagte Treichl, viele der großen europäischen Unternehmen würden nicht an die Börse gehen und somit gebe es auch wenig darunter. „Wir haben diese Kultur nicht“, aber die müsse man entwickeln. Im Klartext: „Unsere Pensionisten finanzieren in Wirklichkeit das Wachstum von Amerika und China mit.“ Beschleunigt werde diese Entwicklung nun durch die Coronakrise – Stichwort Digitalisierung. Profiteur sei die digitale Industrie – und die ist „sicher nicht“ in Europa.
„Mutlosigkeit aufgeben“
Lobend wies Treichl auf den im Frühjahr verkündeten Green Deal hin – „ein erfreuliches Ereignis“. Doch auch hier findet Treichl Anlass zur Kritik. Seither sei, abgesehen von der Ankündigung, dass Europa der führende Kontinent für Grüne Technologien werde, nicht viel passiert. Hier fehlt nach Treichls Meinung wieder ein starker Kapitalmarkt, ohne den Europa „nie“ diese Führungsrolle übernehmen könne. Vielleicht in der Forschung, aber die Firmen säßen dann wieder in China und Amerika.
Jetzt, so Treichl, sei es an der Zeit, sich über die Voraussetzungen Gedanken zu machen, die Europa wieder dorthin bringen, „dass seine Stimme in der Welt eine Bedeutung hat“ – auch im gesellschaftlichen Sinne. Denn das Gefühl dafür, wie wichtig eine ausgeglichene Gesellschaft sei, liegt „fast schon in unserer DNA.“ Dieser Ausgleich, diese Kultur der Mitte sei auch das gemeinsame Ziel der Alpbach-Gründer gewesen.
Um seine Spitzenposition wieder einzunehmen, müsse Europa seine „Trägheit, Unbeweglichkeit und Mutlosigkeit“ aufgeben, sagte der EFA-Präsident und verwies abermals auf die 70er und 80er Jahre und die vielen „unfassbar mutigen Politiker“ dieser Zeit. Solche brauche man jetzt wieder, um Europa „schnell“ auf einen besseren Weg zu führen – „und ich hoffe, sie sind schon unter uns.“
Andreas Treichl (68) ist seit Mitte November Präsident des Europäischen Forum Alpbach. Nach einem Wirtschaftsstudium begann er seine Banker-Karriere in den 70er Jahren in New York, leitet zwischenzeitlich den Wahlkampf für den ÖVP-Politiker Erhard Busek und war schließlich bis Ende 2019 über 20 Jahre Vorstandsvorsitzender der Erste Group.